Métro Léger de Charleroi

Aktueller Linienplan – Wikimedia Commons

– Verkehsplanung auf Abwegen –

Die belgische Stahlmetropole Charleroi verfügt über eines der absurdesten Stadtbahnnetze Europas. Politische Querelen und zwei gegeneinander agierende Nahverkehrsbetriebe führten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu, dass sich durch die knapp über 200.000 Einwohner zählende Stadt Hochbahntrassen wie in Berlin oder Chicago und U-Bahn-Tunnel mit unterirdischen Schleifen und aufwändigen Stationen ziehen, auf denen kleine, zweiteilige Stadtbahnwagen verkehren und dabei ein groteskes Bild abgeben. Manche Streckenäste wurden komplett fertiggestellt und nie eröffnet, zahlreiche Stadtbahnwagen wurden ausgeliefert und nie in Betrieb genommen.

Die Misere hat ihren Ursprung in den 1960er Jahren. Das seinerzeit vorhandene, von der Gesellschaft STIC betriebene innerstädtische Straßenbahnnetz konnte aufgrund der geringen Attraktivität nicht mehr mit dem zunehmenden Individualverkehr konkurrieren. So entstand – wie in zahlreichen europäischen Großstädten – der Plan, das Netz in eine vom Straßenverkehr unabhängige Schnellbahn umzubauen. Die von der staatlichen Nahverkehrsgesellschaft SNCV betriebenen Überlandlinien im Umland der Stadt sollten in dieses Netz integriert werden.

Geplant war ein teils unterirdischer, teils als Hochtrasse ausgebauter Innenstadtring, von dem verschiedene Äste in die Außenbezirke und umliegende Städte abzweigen sollten. 1974 wurde mit dem Bau des bis heute noch nicht fertiggestellten Rings begonnen, zwei Jahre später konnte der erste Abschnitt in Betrieb genommen werden. Bis Ende der 1980er Jahre wurden immer mehr Strecken fertiggestellt und die parallel verlaufenden Straßenbahnlinien stillgelegt. Die seinerzeit günstige Finanzlage ermöglichte einen großzügigen Ausbaustandard. So verläuft beispielsweise die Strecke vom Stadtzentrum Richtung Westen entlang der Rue de Providence ohne jede Not als Hochbahn durch ein Industriegebiet, ebenso die Innenstadtstrecke von der Station Beaux-Arts zum Gare du Sud, dem Hauptbahnhof der Stadt.

Dank eines belgischen Gesetzes, demzufolge der flämische und der wallonische Landesteil bei öffentlichen Investitionen gleich behandelt werden müssen, waren für den Bau solcher größenwahnsinniger Projekte genügend Mittel vorhanden. Aus diesen Töpfen wurden auch vorsoglich 54 Stadtbahnwagen beschafft, von denen beim damaligen Ausbaustand lediglich 20 Stück benötigt wurden. Viele davon sind heute schrottreif, ohne dass sie jemals im Einsatz waren.

Denn die Betreibergesellschaft der Überlandlinien begann in den 1980er Jahren damit, ihre Strecken nach und nach stillzulegen. So blieb ein innerstädtisches Netz, das bei weitem nicht ausgelastet ist. Zu allem Übel kommt hinzu, dass die Äste nach Gosselies und Châtelet zwar fertiggestellt wurden, jedoch bis heute nicht in Betrieb gegangen sind – Streitigkeiten zwischen den Gesellschaften wegen paralleler Busverkehre verhinderten die Inbetriebnahme. Erst mit der Fusion der beiden Gesellschaften zur heutigen TEC im Jahr 1991 konnte Vernunft in die Verkehrspolitik einkehren und ein Jahr später wurde zumindest die unterirdische Strecke nach Gilly im Osten eröffnet – sieben Jahre nach ihrer Fertigstellung.

An den Stationen der nicht eröffneten Strecken waren teilweise schon die Rolltreppen in Betrieb und der Fahrstrom eingeschaltet – eine Geisterbahn wie aus dem Bilderbuch. Mittlerweile kommt jedoch etwas Bewegung in die Sache: Während der Ast nach Châtelet wohl eine Investitionsruine bleiben wird, soll die Linie nach Gosseiles nun doch aktiviert werden und im Jahr 2012 in Betrieb gehen. Die Verlängerung von Gilly nach Soleilmont, ebenfalls im Rohbau schon seit Jahren fertig, soll nun auch vollendet werden. Am Innenstadtring sind die Bauarbeiten in vollem Gange. Er wird nun jedoch nicht, wie ursprünglich geplant, als Hochbahn realisert, sondern als Straßenbahn – es schein Realismus eingekehrt zu sein.

Die einzig verbliebene Überlandstrecke aus der Kleinbahnzeit ist der Ast nach Anderlues Monument, befahren von den Linien 88 und 89. Dort befindet sich auch ein Depot. Sie ist die Verlängerung der Hochbahntrasse durch die Kulisse des Stahlwerks Carsid und könnte zu dieser kaum in krasserem Kontrast erscheinen: eine idyllische, eingleisige Überlandstraßenbahn, die durch Dorfstraßen und an Maisfeldern entlang verläuft. Die Verlängerung nach Thuin wurde 1982, die nach La Louvière 1993 stillgelegt – letztere nachdem sie zunächst aufwändig saniert worden war.

Geplante Netzerweiterungen bis 2010 – Wikimedia Commons

Haltestelle Vilette, aufgenommen am 9. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Auf der Rampe am Bahnhof Charleroi-Sud, aufgenommen am 9. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Haltestelle Charleroi-Sud, aufgenommen am 9. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Abgestellte Triebwagen in Charleroi-Sud, aufgenommen am 9. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Haltestelle Providence, aufgenommen am 10. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Haltestelle Providence, aufgenommen am 10. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Hochtrasse zwischen den Haltestellen Providence und De Cartier, aufgenommen am 10. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Beim Depot in Anderlues, aufgenommen am 10. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Ortsdurchfahrt Anderlues, aufgenommen am 10. Oktober 2010 Foto: Jiří 7256

Links

Diggelfjoer – Expedition durch brach liegende Tunnel (englisch)

TEC Charleroi – Offizielle Homepage (französisch)

Wikipedia – Métro Léger de Charleroi

Youtube – Fahrt mit der Linie 89 Teil 1

Youtube – Fahrt mit der Linie 89 Teil 2

Youtube – Fahrt mit der Linie 89 Teil 3

Youtube – Video der TEC zum Streckenausbau

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