Tuttlingen, die entzauberte Märchenstadt

Foto: Jiří 7256 – 1024×768

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Wappen TuttlingenNachdem vor etwa einem Jahr die Waffenmetropole Oberndorf am Neckar das Ziel einer spätwinterlichen Stadtexkursion war, wählte das Ufo-Explorationsteam dieses Mal das als Welthauptstadt der Medizintechnik oder alternativ als graue Maus bezeichnete Tuttlingen am Oberlauf der Donau aus. Die Industriestadt ist mit ihren knapp 35.000 Einwohnern das Mittelzentrum der Region und Sitz des gleichnamigen Landkreises.

Über die Gäubahn ist man hier von Stuttgart aus in knapp zwei Stunden, mit dem InterCity etwas schneller. Auch nach Ulm und in Richtung Freiburg bestehen Bahnverbindungen, zur von Stuttgart nach Singen führenden A 81 sind es etwas über 15 Kilometer.

Tuttlingen gehört schon seit dem ausgehenden Mittelalter zu Württemberg, seine Befestigungsanlage auf dem Honberg war einst von strategischer Bedeutung, etwa im Dreißigjährigen Krieg. Das heutige Stadtbild ist weitgehend geprägt vom Klassizismus des frühen 19. Jahrhunderts, denn ein verheerender Stadtbrand im Jahr 1803 zerstörte beinahe die gesamte Bausubstanz innerhalb der Stadtmauern. So wurde die Stadt gemäß der Mode der Zeit mit einem quadratischen Grundriss neu angelegt. In der Kernstadt zeugen noch viele Gebäude von dieser Epoche, während entlang der Bahnhofstraße eher gründerzeitliche Backsteinbauten an die Jahre des industriellen Aufschwungs vor dem Ersten Weltkrieg erinnern.

„Die Stadt hat sich aber gemacht“

Von Leuten, die lange nicht in Tuttlingen waren, hört man oft einen ganz bestimmten Satz: „Die Stadt hat sich aber gemacht.“ Und in der Tat: Tuttlingen gehört zu den Städten, die während der letzten Jahren eine rasante Entwicklung erlebt haben. Und wer heute durch die Lindenallee der Fußgängerzone spaziert, am Rathausbrunnen eine Pause einlegt und gegen Abend auf der Terrasse der Stadthalle mit Blick auf die Donau den Beginn der Theateraufführung abwartet, wird eines nicht verstehen: Warum hatte die Stadt so lange den Ruf der „grauen Maus“?

Diese wohlmeinenden Zeilen liest man im Stadtportrait auf der offiziellen Website von Tuttlingen. Eine etwa 85 Jahre ältere Beschreibung der Stadt findet sich in Hermann Hesses 1927 erschienener Nürnberger Reise, in der er eine Übernachtung in einem Tuttlinger Gasthof schildert:

Ich fand ein solides, altes würdiges Gasthaus und ein bequemes Zimmer, steckte die stets brennenden Augen ein wenig ins kalte Wasser und bestellte mir nun eine Hühnersuppe zum Nachtessen. Die war gut, und weil ich Tuttlingen noch nicht kannte, schien es mir nun gut, vor dem Schafen noch einen Gang durch die Stadt zu tun. Ich schlug den Mantelkragen hoch, steckte eine Zigarre an und schlenderte los. Die Hauptstraße kannte ich schon, und sie schien mir dem Ideal eines abendlichen Schwabenstädtchens nicht sehr nahezukommen, darum schlug ich mich in die erste Seitengasse, stolperte über einiges Gerümpel und einen niedern rasigen Abhang hinab und plötzlich war der Mond wieder da und spiegelte sich in einem wunderbaren stillen, nächtigen Gewässer, und spitze Giebel stachen in den bleichen Himmel, weit und breit kein Mensch, hinter einem Hofzaun ein bellender Hund.

„… wo Tuttlingen eine geheimnisvolle Märchenstadt gewesen war“

Erinnerungen an Calw und an die Jugend steigen in ihm empor, doch am nächsten Morgen findet er Tuttlingen merklich entzaubert, ja als eine im ganzen eher nüchterne Stadt vor: So war ich also gerade im rechten Augenblick hierher gekommen, in der einen, unendlich seltenen, begnadeten Stunde, wo Tuttlingen eine geheimnisvolle Märchenstadt gewesen war.

Wer sich nun tatsächlich – wie die Ufo-Besatzung – an einem wolkenverhangenen Samstag Anfang März mit dem Regionalexpress auf die Reise nach Tuttlingen macht, den erwartet freilich weder Hesses geheimnisvolle Märchenstadt noch das gepriesene Paradies der Stadtmarketingabteilung. Vielmehr trifft man hier auf den typisch verträumten Zauber jener abseits großer Metropolregionen gelegenen Mittelstädte, die nach gängigem Reiseführerverständnis nichts Nennenswertes zu bieten haben. Es begegnen verlotterte Gründerzeitbauten, leerstehende Warenhäuser, zwielichtige Bars und aus dem Rahmen der Zeit gefallene Kuriositäten.

Die Tour beginnt am Bahnhof und schon der ist ungewöhnlich. Bereits 1869 erreichten die Schienen der Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahn Tuttlingen, der heutige Bahnhof wurde allerdings zwischen 1928 und 1933 erbaut. Kurioserweise liegen Teile des Bahngeländes auf einstmals badischem Territorium. Das Empfangsgebäude im Stil der Weimarer Moderne wirkt martialisch und ein Wenig überdimensioniert im Vergleich zu den eher übersichtlichen Gleisanlagen, die bereits in den 1960er Jahren ihren ersten Rückbau erlebt haben. Einen Teil des Bauwerks hat die Bahn an einen privaten Investor verkauft (zu erkennen an der modernisierten Fassade), hier befindet sich die übliche Bahnhofsgastronomie, unter anderem ein verspiegeltes Szenecafé, das auf den Namen Minimal hört. Hierzu später.

Schräg gegenüber vom Bahnhof thront das stattliche Backsteingebäude der Firma Aesculap, dem größten der zahlreichen Tuttlinger Hersteller für medizintechnische Produkte. Dazwischen erstreckt sich eine städtebauliche Wüste, Parkplätze, ein trostloser Bahnhofsvorplatz und die B 311. Linkerhand hinter dem Kreisverkehr geht es Richtung Innenstadt, die Fußgängerunterführungen scheinen erst wenige Monate alt zu sein. Hinter dem Kreisverkehr schließt sich die Bahnhofstraße an, die hinauf ins Zentrum führt.

Wie oft in solchen Städten, deren Bahnhof weit außerhalb liegt, ist die zugehörige Bahnhofstraße eine Aneinanderreihung verlotterter Eckkneipen und heruntergekommener Gebäude aus den ersten Jahrzehnten nach dem Bahnbau. Auf der rechten Seite begegnet ein Verschlag, der offensichtlich eine Szenekneipe darstellt, sowie der Teffpunkt Tuttlingen, links ein Dönerladen mit angegliedertem Hotel.

Foto: Jiří 7256 – 1024×768

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In der Bahnhofstraße, Foto: Jiří 7256 – 768x1024

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Auch interessante Automaten dürfen hier nicht fehlen. Zu nennen sind …

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… diese Kombination aus Kaugummi- und Zigarttenautomat sowie …

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… dieses Ensemble aus Schoko-Lädchen und Kaugummiautomaten an der Ecke zum Stadtpark. Nur wenige Meter weiter stadteinwärts treffen wir linkerhand auf ein Sinnbild für den Niedergang des klassischen Warenhauses, die Überreste einer Hertie-Filiale, in deren Schaufenster zwischen allerlei Chaos noch die Abschiesgrüße BUY-BUY! zu lesen sind.

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Direkt gegenüber lädt mit mediterranem Flair die Bar Italia zu einem Espresso mit Grappa ein:

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Je weiter man der Bahnhofstraße folgt, desto mehr wandelt sich jedoch die Vorstadttristesse in eine durchaus intakte Innenstadt mit allem was dazugehört, Buchhandlung, Drogeriemarkt, Kochlöffel, Marktplatz mit historischem Rathaus und trendigen Modegeschäften.

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Der Narrenverein wünscht schon einmal frohe Ostern und im Buchladen mit integriertem Kultur-Café in der Donaustraße scheint sich samstagmittags alles eher um Kaffeeklatsch als um Buch und Kultur zu drehen, denn die dortige Geräuschkulisse macht es unmöglich, auch nur eine Zeile zu lesen. Derweil füllt sich der Kochlöffel mangels Alternative mit hungrigem Publikum aller Altersstufen, auch mit Leuten, die man andernorts nie in einer solchen Hamburgerbude vermuten würde. Etwas hinter dem eigentlichen Stadtzentrum zeigt sich dagegen der Busbahnhof um diese Zeit recht einsam und verlassen. Dem handschriftlichen Hinweis zufolge scheint es sich jedoch um ein heißes Pflaster zu handeln.

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Einige Schritte ums Eck beim Busbahnhof stoßen wir auf diese einstige Kneipe namens Salon Teufel, während gegenüber in der Wende („Play – Fun and Music“) noch durchaus etwas geboten ist, ja es herrscht hier am frühen Samstagnachmittag geradezu high life. Eine Rentergruppe spielt Karten bei Bier und Schnaps, ein Jeansjackenmann führt seinen Hund Ajax in die Stube (ein Mischling aus Berner Senn, Rottweiler und drei weiteren Rassen) und am Automaten werden fleißig die Nickelmünzen verzockt. Die Blondine auf dem Hirschbräu-Aufsteller, der den runden Tisch am Fenster ziert, will nicht so recht in die Szenerie passen – Traum und Realität.

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Auf dem Weg zurück in die City passierten wir einen Kaugummiautomaten mit silicon band MIX

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… sowie diese schöne alte Martini-Werbung in der Oberen Hauptstraße. Was sowohl in den Buchhandlungen als auch im Toto-Lotto-, Zeitschriften- und Bongladen an der Königstraße auffällt: Es gibt verhältnismäßig wenige Ansichtskarten von Tuttlingen, ja auf die Frage nach Postkarten erhält man die verdutzte Gegenfrage „Von Tuttlingen?“. Touristen scheinen selten hier zu sein. Gegen 16 Uhr machen dann auch die letzten Geschäfte den Laden dicht und es bleiben nur noch die Eckkneipen, die allerdings zahlreich vorhanden sind.

In der Bahnhofstraße, Foto: Jiří 7256 – 768x1024

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Zu nennen wäre da etwa der Zapfhahn, an der bereits bekannten Bahnhofstraße gelegen. Auch hier ist man über auswärtige Besucher überrascht: „Ihr seid aber nicht von Tuttlingen?“ – „Nein.“ – „Ja, was wollt ihr denn hier, ist’s hier so schön?“, fragt verwundert die Wirtin. Auf Besucher ist man offensichtlich wahrlich nicht eingestellt. Der Herr nebenan jedoch ist ebenfalls nicht von hier, er kommt aus Hannover. Er kam der Arbeit wegen, Anfang des Jahres. Sicherheitsdienst. An die Sprache müsse man sich noch gewöhnen, auch habe, seit er hier ist, noch nicht einmal die Sonne geschienen. Aber das Bier (Hirschbräu), das könne man trinken. Bald darauf stellt sich heraus, dass auch die Wirtin nicht aus Tuttlingen kommt, sie stammt aus dem südbadischen Breisach.

Die eingangs erwähnte Baracke hat ihre Pforten entgegen der Öffnungszeitentafel leider geschlossen und so endet dieser Bericht mit dem ebenfalls bereits bekannten Szenetreff Minimal im Empfangsgebäude des Bahnhofs. Der Kerl hinter der Bar ist keine 18 Jahre alt. Außer ihm ist niemand im Raum, der wegen der Verspiegelung von außen deutlich größer wirkt als er ist.

„Was möchten Sie trinken?“
„Ein Pils.“
„Eine Halbe.“
„Was ist denn das?“
„Ein Export, halber Liter.“

Bald darauf kommen zwei seiner Altersgenossen hinzu. Wir fragen uns, wie es hier wohl in einigen Stunden zugehen wird? So samstagabends? Wir entscheiden uns für den nächsten Regional-Express. Beim Abschied ruft uns der angehende Barmann noch hinterher: „Das muss ich mir merken, eine Halbe ist ein Export!“

Alle Aufnahmen und Geschichten vom 2. März 2013.

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