Projekt Gerber

Stuttgart auf architektonischen Abwegen

Überschattet von der Problematik um das Projekt Stuttgart 21 verschwand im Lauf dieses Jahres im Süden der Stuttgarter Innenstadt ein ganzes Stadtquartier. Das Gebiet zwischen der Marien-, Sophien- und Tübinger Straße sowie der Paulinenbrücke zeigt sich dieser Tage als eine einzige Abbruchwüste. Lediglich entlang der Sophienstraße haben sich einige Gebäude erhalten, darunter auch die mittlerweile aufgegebene Auferstehungskirche, über deren Zukunft noch nicht entschieden ist.

Auf dem Gelände soll ein Einkaufszentrum mit angeschlossenen Wohnanlagen namens Gerber entstehen, benannt nach dem benachbarten Gerberviertel. Bauherrin ist die Württembergische Lebensversicherung AG. Zuvor befanden sich hier Bauten aus der Nachkriegszeit, etwa Bürokomplexe der BW-Bank und Einzelhandelsgeschäfte wie Dräger Elektronik in der Sophienstraße oder der Headshop Udopea am oberen Ende der Marienstraße. Durchquert wurde der Komplex von der Marienpassage. Deutlich jünger war das Commerzbankgebäude an der Ecke Marien- / Sophienstraße – auch dieses wurde abgebrochen. Bei Google Street View ist der Zustand vor dem Abriss noch zu sehen, die Aufnahmen entstanden im Jahr 2010. Alles in allem handelte es sich um schlichte, schmucklose Einheitsbauten.

Sieht man sich die Visualisierungen auf den Internetseiten der Projektträgerin an, so wünscht man sich diese typisch Stuttgarter Büro- und Geschäftsblocks umgehend zurück: Das geplante Gerber steht den Bauten für Skopje 2014 in Mazedonien in Sachen Geschmacksverirrung in nichts nach. Es wird ein historisierender, protziger Koloss entstehen, der weder zur umliegenden Bebauung, noch zur Stadt insgesamt passt. Der Innenhof erinnert an eine Ferienanlage auf den Balearen, das Hauptgebäude mit den kitschigen Portalbereichen kann man sich eher an einer niederländischen Autobahn als in der Stuttgarter City vorstellen. Die Stadt hat in den vergangenen Jahren deutlich ansprechendere Bauprojekte erlebt, man denke etwa an die Umgestaltung des kleinen Schlossplatzes.

Für das Projekt werden zwei unter Denkmalschutz stehende Gebäude an der Tübinger und Sophienstraße umgebaut, von ihnen wird lediglich die Fassade erhalten bleiben. Dies hat selbstverständlich schon für einigen Unmut im Bezirksbeirat gesorgt, die Immobilienlobby hat sich jedoch durchgesetzt. Was mit der Kirche geschehen soll, ist unklar. Die evangelisch-methodistische Gemeinde hat den Standort aufgegeben, da die zu erwartenden Lärmbelästigungen während der Bauarbeiten den Betrieb unmöglich erscheinen ließen, und beabsichtigt, das Gebäude zu verkaufen. Die Bauherrin sieht offenbar aus Sorge um ihren guten Ruf von einem Abbruch ab.

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Dieses unfreiwillig komische PR-Video zeigt das ganze Ausmaß des Glamour-Trashs. Ungeachtet der Frage nach der Sinnhaftigkeit des gesamten Projekts wurde hier auf bittere Weise die Chance vertan, die Tradition zukunftsweisender Architektur in Stuttgart zu pflegen und entsprechende Akzente zu setzen.

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Hier sieht man den Zustand vor den Abbrucharbeiten, der Ausschnitt zeigt den Blick von der Paulinenbrücke. Biegt man von hier aus drei Mal rechts ab, hat man das Quartier umrundet und gelangt an die gleiche Stelle, jedoch eine Etage tiefer. Hier unterquert die Tübinger Straße die Paulinenbrücke (siehe letztes Foto oben), dort befand sich einst eine berühmt-berüchtigte Shell-Tankstelle, die leider bereits vor einigen Jahren weichen musste – sicher nicht aufgrund mangelnden Umsatzes.

Die Aufnahmen von der Baustelle entstanden am 17. September 2011.

Literatur:

Das Gerber. Offizielle Website. 2011.

Stuttgarter Nachrichten: Eine leere Kirche trotzt den Baggern. 2011.

Stuttgarter Zeitung: Streit um Denkmalschutz geht weiter. 2011.

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